Eggert/Ricklefs: Supernova im System
von Wiebke Gronemeyer
Risse ziehen sich durch die blauen, gelben, türkisenen und roten Farbflächen, huschen über die dunkelgrauen Schatten im Inneren der Winkel, um gleich darauf abzuknicken, hin zu den großen matt-grauen Flächen, die in der Mitte spitz aufeinander zulaufen. Geht man nach diesem ersten, fernen Eindruck auf die gleichförmige Skulptur XEROX (2009) zu, dann verschwindet ganz schnell dieses Gefühl mit einem Blick das Wesen dieses Objektes, sein Zusammenspiel von Form und Farbe im Raum, einzuschätzen, geschweige denn, erkennen zu können. Es ist nicht die Massivität der übermenschlichen Größe dieser Skulptur; es sind auch nicht die großen gleichmäßigen Farbflächen, die Verwunderung darüber erwirken, was es mit diesem sternenförmigen Gebilde auf sich hat. Vielleicht sind es diese Risse, die das perfekte Gebilde im Sinne einer absolut symmetrischen Konstruktion so unperfekt, so verletzlich, so willentlich zerstört erscheinen lassen.
Der Gang um die Skulptur führt in das untere Geschoss der Galerie, wo die Kraft der Risse scheinbar ihre Wirkung entfaltet haben: zerkleinert liegt der Sternentetraeder in Einzelstücken auf einem flachen grauen Podest. Einige Teile drohen herunterzufallen. Doch es stellt sich derselbe Effekt wie schon im Erdgeschoss ein: der Zweifel an der eigenen Wahrnehmung, an der Erkenntnis als Resultat einer zu schnellen Kombination verschiedener Eindrücke, wächst stetig an. Das Chaos ist nicht zufällig, genauso wenig wie die Risse nur äußerlicher Ausdruck einer inneren Kraft sind, die eine Explosion hervorrufen. Vielmehr ist an dem vermeintlichen Chaos auf dem bühnenartigen Podest nichts zufällig. Es erfüllt die Funktion, den Betrachter vor die Frage zu stellen: Wo hat das Schauspiel begonnen? Mit der Konstruktion des Sterns oder dem Beseitigen unserer Vorstellung von Zerstörung, dekonstruktiver Absichten im Sinne einer Auflösung, Klärung, also Interpretation?
Exkurs:
Gesetzt dem extrem seltenen Fall, dass ein Stern zum Ende seiner Lebenszeit explodiert, dann ist das kein Zufall, auch kein plötzlicher Ausdruck widriger Umstände, sondern das Resultat einer Beziehung zweier Sternmassen, die ein binäres System formen. Hierbei bewegen sich zwei Sterne in regelmäßigem Abstand um einen gemeinsamen Schwerpunkt. Wird dieses Doppelsternsystem in seiner Ausgewogenheit gestört, reagieren die Massen: der alternde Stern schwillt an und gibt Gas an den Begleitstern ab, der in seiner Eigengravitation zu kollabieren beginnt und explodiert. Obwohl diese Supernova für den einen Stern ein Prozess der Zerstörung ist, bedeutet sie aber auch eine Neuentstehung: die durch den Stern jagende Explosionswelle ist in der Lage, aus leichteren Elementen rasch wertvolle Atome wie Gold oder Uran zu erzeugen. Eine Supernova ist Anfang und Ende zugleich.
Neue Materien entstehen aus Alten. Das verändert nicht nur ihre Zusammensetzung, sondern betrifft ihr Wesen. Neue Konstellationen sind nur möglich, wenn im Prozess einer Auflösung und Aufhebung Veränderung und Transformation stattfindet. Es ist nicht nur ein Grundgesetz der Physik, dass Energie nie verloren, sondern lediglich umgewandelt werden kann – Transformation ist ein grundlegender Wechsel oder Austausch eines Ordnungsgefüges. Materialien gewinnen ihre Materialität durch die Veränderung ihrer Konstellationen zueinander. Raum lässt sich erst dann in Bezug auf seine Räumlichkeit beschreiben, wenn mögliche Perspektiven und Veränderungen wahrnehmbar gemacht werden.
In ihren kollaborativen Arbeiten machen Janine Eggert und Philipp Ricklefs auf den Prozess der Transformation aufmerksam und loten nicht nur das Potential von Zustand vs. Veränderung, sondern auch die Möglichkeiten von Individualität und Abhängigkeit aus. Die Frage, wie sich Dinge zueinander verhalten, betrifft sowohl Farbe und Form, Betrachter und Raum, Zufall und Intention, als auch ihre ganz eigene Form der Kollaboration, die gemeinsame Arbeit an einem künstlerischen Prozess des Ausdrucks.
Notwendigerweise geht diesem immer auch ein Eindruck voraus: eine Idee, entstanden aus dem Abdruck einer Wahrnehmung im Prozess der Kommunikation, der ständig und gegenseitig zwischen beiden stattfindet. Ihre Arbeiten nehmen viele verschiedene Formate an, die das Ordnungsgefüge im Prozess der Realisation eines Kunstwerkes von Anfang bis Ende – von der Zeichnung bis zur Skulptur – gehörig durcheinander bringen. Die gemeinsamen Gedankenmodelle, die dabei entstehen und entwickelt werden, müssen sich wohl so ähnlich zueinander verhalten wie der konstruierte zum dekonstruierten Stern vor den Augen des Betrachters. Sie sind Modelle für ein Konzept von und mit Kunst, dass mit jedem neuen Ausdruck ein neues und weiteres Format erhält und dabei den Prozess der Kommunikation als Motor von Kollaboration erst und ständig ermöglicht. Die Zeichnungen und Skizzen, Ausschnitte aus Büchern, Modelle, Testbauten, Bilder vom Aufbau, fertige Installationsansichten etc. dokumentieren diesen Prozess, der in der Idee mündet, dass Wahrnehmung, Kommunikation und Vermittlung nicht nur die Rezeptionsbedingungen, sondern vor allem die Produktionsbedingungen von Kunst sind.
„Kunst muss, um Kunst zu sein, kommunizieren, wie es zu bestimmten Wahrnehmungseindrücken kommt.“1 Der intentionale Hintergrund, den ein Kunstwerk besitzt, wird dem Betrachter deutlich, indem er in seiner Wahrnehmung des Kunstwerkes zwischen Kommunikation und Wahrnehmung unterscheidet. So beschreibt der Soziologe Dirk Baecker in Anlehnung an die Systemtheorie Niklas Luhmanns die Art und Weise, wie und welche Wahrnehmung im Verhältnis von Werk und Betrachter stattfindet. Dies ist eine notwendige Voraussetzung, um den Prozess der Interpretation als Dialog zu begreifen. Unterschieden werden muss dabei zwischen Kunst als Kommunikation und dem Individuum als Träger und Produzent von Wahrnehmung. Diese Differenzierung ist enorm wichtig, denn im Gegensatz zur Kommunikation kann Wahrnehmung nicht negiert werden. Eine solche Hilflosigkeit des Bewusstseins gegenüber der eigenen Wahrnehmung stellt Baecker als Illusion dar, die in der Gewöhnung manifestiert wird, dass Wahrnehmungen als Tatsachen der Welt und nicht als aktive Leistung einem selbst zugerechnet werden. Diese Illusion aufzuheben bzw. zu negieren, ist die kommunikative Funktion der Kunst.
Die Kunst von Eggert/Ricklefs meldet sich an dieser Stelle zu Wort. Sie macht den Betrachter auf den Prozess seiner Wahrnehmung aufmerksam. Sie insistiert auf den bewussten Vollzug derselben als notwendige Voraussetzung für jegliche sich anschließende Interpretation. Durch das gezielte Zusammenwirken von Farbe, Form und Raum, sowie auch im Rückgriff auf Farbkonzepte wie die ‚Interaction of Color’ von Josef Albers oder die Gesetze der Geometrie wollen die Künstler den Betrachter dazu auffordern, das Werk über die eigenen Sehgewohnheiten hinaus bewusst zu erleben und in diesem Erlebnis etwas für sich selbst zu erschaffen – im Dialog, in Kommunikation.
Nichts anderes passiert im Prozess der Kollaboration, dieser Form von Kommunikation als kontrolliertem Austausch von und über Wahrnehmungen. Auch dabei kommt es immer wieder zu Explosionen, in denen sich durch die Transformation der Materialien und Medien (Zeichnungen, Skizzen, Modelle) auch die Materie (Idee, Konzept, Referenzen) immer wieder verändert. Die folgenden Seiten lesen sich wie eine inhaltliche Dokumentation einer solchen Supernova. Sie erzählen etwas über die Entstehung der Arbeiten, denen wir dann im Ausstellungsraum begegnen. Dennoch sagen sie nichts über ihren Inhalt, denn die Unterscheidung zwischen Form und Inhalt ist ebenfalls Opfer des Postulats geworden, dass eine solche Unterscheidung nicht im Kunstwerk, sondern nur in dessen Betrachtung gefällt werden kann: Wahrnehmung ist nicht die Identifikation eines Sinngehaltes, sondern begreift erst die Entstehung der Sinnhaftigkeit. Das folgende Bildmaterial gibt Einblick in einen Arbeitsprozess, der sich zwar in unzähligen Formaten manifestiert, aber nicht über ein jeweiliges bestimmtes Bild oder Werk kommuniziert, sondern sich – wie auch dieses Vorwort – ausschließlich mit den Parametern beschäftigt, die zur Produktion von Kunstwerken und zu einem Verständnis von Kunst als Kommunikation notwendig sind.
1 Dirk Baecker (2007): Zu Funktion und Form der Kunst, S. 13-35. In: Christine Magerski, Robert Savage, Christiane Weller (Hrsg.): Moderne Begreifen: Zur Paradoxie eines sozio-aesthetischen Deutungsmusters, Wiesbaden, DUV, 2007.